Der ehemalige Kapitelsaal

In Ermangelung einer Kirche wurde der Kapitelsaal im Ostflügel schon unter Abt Ulrich Rösch als Marienkapelle eingerichtet, erstmals eingeweiht am 8. Juni 1489, erneut nach dem Klosterbruch am 23. September 1490. Im Bildersturm ausgeplündert. Ein lateinischer, offenbar neugemalter Text in der Gewölbekappe über dem Eingangsportal bezeugt, dass am 4. Mai 1532 Abt Diethelm Blarer im Auftrag des Konstanzer Weihbischofs Melchior (Vettlin) die Kapelle mit drei Altären sowie den zugehörigen Kreuzgangflügel neu geweiht habe. 1564-68 liess Abt Otmar Cunz eine neue Ausmalung anbringen. 1855-62 diente der Raum den evangelischen Mitchristen von Rorschach. Wohl damals (oder schon um 1840?) wurden die Wände und Gewölbe übertüncht. Zu unbekannter Zeit (sicher vor 1891) wurde die Mauer zum südlich anliegenden Wölberaum (heute Durchgangshalle) durchbrochen. Obwohl man seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts wusste, dass der Raum ausgemalt ist, wurden 1899, als man hier einen Musiksaal einrichtete, grössere Fenster in die Ostwand gebrochen. 1899 legte Restaurator CHRISTIAN SCHMIDT-ERNI die Malereien im Auftrag des Kantons St.Gallen unter Leitung von JOHANN RUDOLF RAHN frei, wobei allerdings starke substantielle Verluste eintraten, die durch Retouchen und Übermalungen wettgemacht wurden. 1975/76 wurde der bauliche Zustand von einst mit Ausnahme des nachgewiesenen Altarerkers durch die Schliessung der Südwand und Rekonstruktion der Ostfenster nach seinerzeitigen Planaufnahmen AUGUST HARDEGGERS wiederhergestellt. Die al secco aufgetragenen Wandmalereien wurden sorgfältig konserviert und behutsam restauriert.
Der Kapitelsaal liegt - entsprechend benediktinischer Gewohnheit - im Ostflügel und öffnet sich zum Kreuzgang mittels spitzbogiger, profilstabgerahmter Tür und zweier stichbogiger Fenster. Auf der östlichen Gegenseite drei rekonstruierte Zwillingsfenster. Die zweischiffige Halle wird durch zwei stämmige Rundpfeiler unterteilt, über welchen sich auffallend gedrückte Netzrippengewölbe in sechs quadratischen Jochen entwickeln. Die grätigen Rippen, welche direkt aus den Pfeilern, bzw. aus den Wänden wachsen, teilen das Gewölbe in sechseckige Felder und eingeschlossene Quadrate ein. In den Kreuzungspunkten der Rippen sitzen Schlusssteine, die fünfmal das Wappen des Bauherrn Ulrich Rösch und einen schwebenden Engel unter Kreuz mit Dornenkrone zeigen. Der im Verhältnis zum Kreuzgang vertiefte Boden ist mit neuen Sandsteinplatten belegt. Das ehemalige Rundbogenportal, welches im östlichen Teil der Nordwand die Verbindung zur Sakristei herstellt, ist heute vermauert.
Der Raum ist reich ausgemalt. Rahn konnte allerdings 1898 an den Wänden noch einiges mehr sehen. Im Gewände der stichbogigen Türnische ist oben das Schweisstuch Christi, flankiert von zwei Engeln mit Leidenswerkzeugen, zu sehen, seitlich links ein Schmerzensmann, rechts eine Frau (Symbolgestalt der Welt?) erkennbar. Die Portalrahmung besteht aus einer üppigen Rollwerkbekrönung mit der Inschrift «Genealogia domini nostri Jesu Christi 1568». Seitlich darunter die Stammeltern Adam und Eva. Stammvater Jesse liegt mit aufgestütztem Haupt auf einer Ruhestatt. Aus seinen Lenden wächst der Stammbaum Christi mit 40 halbfigurigen Ahnen Christi, der sich ins Gewölbe entfaltet. Die in rotierendes Ast- und Rankenwerk eingeschlungenen Gestalten entwachsen Blütenkelchen und sind auf Spruchbindern mit Namen bezeichnet, allerdings nicht streng in der biblischen Ahnenfolge nach dem Anfang des Matthäusevangeliums. Im Rautenfeld, das genau die Mitte des Raumes einnimmt, finden wir Josef, Maria und Christus. Bemerkenswert ist die phantasievolle Kostümierung, bald zeitgenössisch, bald antikisierend und orientalisierend. Seitlich neben der Türe sind zwei Bischöfe gemalt, links ungedeutet, rechts wohl Valentinus von Terni (Abt Diethelm Blarer gründete 1564 eine Valentinsbruderschaft).

In den seitlich anschliessenden Gewölbejochen finden sich je vier Einzeldarstellungen von Heiligen in spitzovalen Beschlagwerkrahmen, bereichert durch Grotesken und Putten. Nördlich: Magnus, Wolfgang, Barbara (am Podest Malersignatur NK) und Mauritius, südlich: Scholastika (dat. 1566), Kolumban, Wiborada und Notker. Die drei Joche auf der Fensterseite, welche je einem Altar entsprochen haben dürften, zeigen insgesamt 12 Szenen aus dem Leben Mariens. Von Norden nach Süden: Joachims Opfer wird im Tempel zurückgewiesen, Joachim hört die Verheissung des Engels, Joachim und Anna begrüssen sich an der Goldenen Pforte, Geburt Mariens, Tempelgang Mariens, Tempeldienst Mariens, Gattenwahl, die Vermählung Mariens, Verkündigung Mariens (im Buch datiert 1568), Heimsuchung, Geburt Christi und Beschneidung. An der nördlichen Wand links ist die Marienkrönung in Gegenwart der auf der Erde zurückgebliebenen Apostel und des ganz rechts knienden Abtes Otmar Cunz mit Wappen zu erkennen (darunter Jahreszahl 1564, fast ausgelöscht). Die Bildmitte ist zerstört durch einen im späten 19. Jahrhundert erfolgten Mauerdurchbruch für ein Harmonium. Im rechten Wandschild Wappengruppe des Abtes Franz Gaisberg, flankiert von zwei Engeln. Im westlichen Wandschild links des Fensters Versuchung des hl. Antonius Eremita, rechts Vision des Evangelisten auf Patmos (schlecht erhalten), im Fenstergewände Mönch Tuotilo und rechts Landschaftsfragment; über der Fensternische Wappen des Abtes Otmar Cunz in Obhut zweier Engel. Im nördlichen Wandschild Szenen aus der Benediktusvita, links unkenntlich (Giftbecher?), rechts Benedikt befiehlt dem Maurus, den ins Wasser gefallenen Plazidus zu retten; über dem Fenster posaunender Engel in Rollwerkornament.

Datierung.

So einheitlich heute die Malerei erscheint, so sind doch verschiedene Entstehungsstufen vorauszusetzen, und zwar nicht nur innerhalb der beiden überlieferten Daten 1564 und 1568, sondern wohl weit über ein halbes Jahrhundert zurück. Zwei 1899 abgelöste Köpfe der Fensterfront, an welcher Rahn vor den Fensterausbrüchen noch zahlreiche Einzelheilige gesehen hatte, sind tatsächlich ins Historische Museum St.Gallen gelangt und dort auch noch vorhanden (Inv.-Nrn. 5836, 5837). Sie stellen den hl. Paulus und der Überlieferung nach den hl. Martin dar und gehören zweifellos noch ins 15. Jahrhundert, vielleicht in die Zeit Abt Ulrich Röschs, also vor 1491. Vielleicht stammen sie von HANS HAGGENBERG, der nachweislich in Rorschach tätig war (Vadian). Möglicherweise geht auch das gotische Motiv des Arbor Jesse auf Haggenberg zurück, der mit Vorliebe Heilige und alttestamentliche Figuren auf Blütenkelche setzte (vgl. Wiesendangen ZH vor 1492). Zu unorganisch erscheint das Liegebett auf der Rollwerkbekrönung von 1568, als dass die gleiche Entstehungszeit angenommen werden kann. Das Astwerk des Stammbaums Christi ist zudem viel kräftiger und saftiger als die zarten Blütenranken um die grossen Heiligenfiguren. Schliesslich weist auch das Wappen von Franz Gaisberg (1504-1529) an der Nordwand zeitlich zurück. Es muss in dessen Regierungszeit entstanden sein und ist nicht als Hommage Abt Otmars an seinen Vorgänger zu bezeichnen, zumal sich die gleiche auf den Kopf gestellte Wappenpyramide, hier allerdings mit dem Wappen Abt Kilian Germanns (1529-1530) in der nahen Sakristei findet (s.u.). Bei genauem Hinsehen entdeckt man im Putz seitlich des Portals zwei durchschimmernde Bischofsfiguren, die ebenfalls einer ältern Malschicht angehören müssen wie auch die beiden datierten Rötelkritzel von 1515 und 1519 im gleichen Bereich. Anderseits dürften die halbwegs sichtbaren Konsekrationskreuze 1532 aufgemalt worden sein. Damals wurde laut Inschrift im Portaljoch des Kreuzgangs eine Neuweihe vorgenommen.

In der Zeit von 1564 bis 1568 hat dann wohl jener am Barbarabild signierende Künstler die Raumausmalung in den noch leeren Feldern ergänzt und das Vorhandene vereinheitlicht. Es ist eine der wenigen programmatischen Raumausmalungen des 16.Jahrhunderts.

MEISTERFRAGE

Die Ausmalung in der ehemaligen Marienkapelle auf Mariaberg ist ein bedeutendes Beispiel der Renaissancemalerei in der Schweiz, die gerade im dritten Viertel des 16. Jahrhunderts verhältnismassig schlecht dokumentiert ist. Der anonyme Meister ist ein tüchtiger Eklektizist, stimmungsmassig noch ganz der Gotik verhaftet, aber im Stilvokabular modern. Die fragile Architektur findet sich wesensverwandt schon in der italienischen und französischen Wand- und Buchmalerei des frühen 15. Jahrhunderts. Hingegen ist das rahmende Band- und Rollwerk ein Stilelement, das erst nach 1550 über die Druckgraphik von Frankreich in die Schweiz eindringt, erstmals nachweisbar auf der Titelseite einer Zürcher Bibel von 1553 (Holzschnitt von Jos Murer, Herausgeber Andreas Gessner). In Rorschach ist dieses metallisch anmutende Schmuckmotiv bereits voll entwickelt. In den Marienszenen ist ein ganzes Repertorium deutsch interpretierter Stilelemente italienischer Renaissance ausgebreitet. Altane, Tamboure, Kuppeln und phantastische Bekrönungen werden auf eine auffallend staksige Architektur aufgebaut, welche in altertümlicher Manier aufgeschnitten ist und Einblick in zum Teil noch gotische Räume gewährt. In diesen Kulissen agieren die Figuren puppenhaft nach ikonographisch festgelegtem Zeremoniell, das entfernt an DÜRER erinnert. Die Architekturrequisiten scheinen dagegen bei ALBRECHT AETDORFER und den BRÜDERN BEHAM entliehen. Der Ritterheilige Mauritius gleicht den «Helden» HANS BURGKMAIRS, wie sie auch Christoph II Weiditz 1550 in Holz geschnitten hat. (Die Augsburger Patrizierfamilien und amtlichen Würdenträger mit ihren Wappen, hrsg. von Melchior Kriegstein, Augsburg). Die wenigen Landschaftsdarstellungen gehören in den Umkreis der «Donauschule», die damals allerdings kaum mehr stilbildend war.
In Addition dieser Stilmerkmale möchte man an einen in Augsburg geschulten Meister denken, wobei die Liebe zum Detail und die Freude am bunten Erscheinungsbild sogar einen Buchmaler vermuten lassen. Man wird sich daran erinnern, dass der aus Rorschach gebürtige NIKLAUS BERTSCHI (gest. 1541/42), dessen Buchmalerei einigermessen Überblickbar ist, in Augsburg wohnte. Sein SOHN NIKLAUS, ebenfalls Buchmaler und Holzschneider und als Meister von 1553 bis 1575 erwähnt, hinterliess ein Werk, das bis heute kaum bekannt ist.
Die Rorschacher Ausmalung hat - mindestens in der Schweiz - keine ebenbürtigen Vergleichsbeispiele. Zu erwähnen bleibt immerhin, dass Abt Otmar 1558, damals noch Statthalter in Rorschach, auch die Kapelle im nahen Schloss St.Anna hatte ausmalen lassen. Die vier Evangelisten im Gewölbe, die hl. Johannes der Täufer und Katharina sowie die Portalrahmung mit den Wappen Abt Diethelm Blarers stammen zwar ebenfalls von einem Manieristen, nähern sich aber stilistisch eher den Malereien von 1540 im Westflügel von Mariaberg (s.u.). Hingegen soll noch einer der wenigen greifbaren Künstler jener Zeit genannt werden, nämlich der aus Zürich stammende, aber in Luzern tätige MARTIN MOSER (um 1500 - 1568), der für Jost Pfyffer 1557 zwei Tafeln schuf (Kunstmuseum Luzern) und auch die historisierenden, im Stil mit Mariaberg vergleichbaren Bilder der ehemaligen Hofbrücke gemalt haben dürfte.
Anderseits ist unser Anonymus gleichsam der Vorläufer jenes um 1600 in Wil tätigen und recht gut dokumentierten Meisters namens KASPAR KNUS aus Konstanz, der laut Signatur am blinden Frontmuster des gotischen Chors der Pfarrkirche St. Nikolaus in Wil 1602 nur die dortige Ausmalung verantwortlich zeichnet. Möglicherweise sind ihm auch Malereien im äbtischen Hof Wil und im ehemaligen Chor der Pfarrkirche Henau zuzuschreiben.



Text aus: Bernhard Anderes, RORSCHACH, Ehemaliges Kloster Mariaberg, 1982 (Herausgegeben vom Amt für Kulturpflege des Kantons St.Gallen und von der Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte, Bern (Schweizerische Kunstführer, Serie 32, Nr.320)